Zum Verständnis der 'Temperatur'

klassisch und nicht-klassisch

In naturwissenschaftlichem Kontext wollen wir als klassische Zeit die Ära bezeichnen, die vor der Entdeckung der Energiequantelung durch Max Planck im Jahr 1900 lag. Die in dieser Zeit entwickelte chemische Thermodynamik ist in wesentlichen Teilen eine isotherme Theorie. Das ist verwunderlich, weil man doch als Thermodynamiker in jedem Kalorimeter gerade Temperaturänderungen misst. Temperaturänderungen isotherm zu deuten, das kann - nüchtern betrachtet - für das Verständnis der Phänomene einfach nicht hilfreich sein. Dennoch kann man dies aus heutiger Rückschau auf die klassische Zeit aber durchaus auch als 'weise' bezeichnen, wie wir am Ende dieses Gedankengangs noch sehen werden.

Das Temperaturphänomen wurde im 19. Jahrhundert durch die kinetische Gastheorie gedeutet. Man nahm an, dass alle grundlegenden Teilchen sich in ständiger Bewegung befänden. Angeregt wurde diese Deutung vermutlich durch die Entdeckung eines Phänomens durch den Botaniker Robert Brown im Jahr 1827 und das ihm zu Ehren dann als Brownsche Bewegung bezeichnet wurde. Brown hatte unter dem Mikroskop eine Pollensuspension untersucht und dabei eine ständige zitternde Bewegung der Pollen beobachtet. Diese wurde so gedeutet, dass man annahm, die im Mikroskop nicht sichtbaren Moleküle der Suspensionsflüssigkeit seien in ständiger Bewegung, stoßen dabei die Pollen an, so dass diese ihren Ort geringfügig änderten. Unter 'grundlegenden Teilchen' sollen hier jetzt Atome, Moleküle, Ionen, Atomrümpfe und Elektronen verstanden werden. Obwohl die Bewegung der grundlegenden Teilchen im Mokroskop nicht sichtbar war, gewann diese kinetische Deutung eine große, wissenschaftliche Zustimmung. Untersuchungen solcher Suspensionen zeigten auch, dass die von den suspendierten Teilchen zurückgelegten Wege bei höherer Temperatur größer wurden. Dies entsprach auch qualitativ der kinetischen Gastheorie. Diese Zustimmung erschien den damaligen Wissenschaftlern offenbar so überzeugend zu sein, dass man eine thermodynamische Deutung der Temperatur einfach gar nicht vermisste und man sie deshalb nicht suchte. Es gab sie dann einfach nicht.

Im Jahr 1905 hat Albrecht Einstein diesem Phänomen zwei Aufsätze gewidmet, obwohl er dieses Phänomen wahrscheinlich bis dahin noch nicht gesehen hatte und ihm - wie er schreibt - nur dürftiges Material zur Verfügung stand. Er entwickelte als Theoretiker eine Beziehung, nach der sich die zurückgelegten Wege berechnen lassen. 1905 schrieb er, dass - falls es einem Experimentator gelingen würde, diese Formel zu bestätigen - die klassische Thermodynamik nicht mehr als ganz korrekt anzusehen sei.

Einstein-BB-Formel


Diese Formel hatte manch Rätselhaftes, darunter:
  1. die zurückgelegten Wege der suspendierten Teilchen hingen danach nicht von der Masse der bewegten, suspendierten Teilchen ab. Schwere Teilchen werden durch die Stöße genauso weit wegbewegt, wie solche mit geringer Masse,

  2. die Teilchen unterliegen gemäß der Einsteinschen Formel der viskosen Reibung, aber es wurde nie beobachtet, dass diese Reibung die Bewegung verlangsamen würde oder sie sogar zum Stillstand brächte. Sie wurde auch in flüssigen Einschlüssen von Mineralien, die Millionen Jahre alt waren, beobachtet.

Zu 1.: Dies würde man bei einer Bewegung aufgrund einer kinetischen Energie so nicht erwarten.
Zu 2.: Eine nie endende Bewegung von Masseteilchen, die einer Reibung ausgesetzt sind, widersprach der klassischen Thermodynamik.

Einsteins Formel wurde einige Jahre nach seinen Publikationen von J. B. Perrin bestätigt und Perrin 1927 mit einem Physiknobelpreis gewürdigt.



Zu ziehende Konsequenzen:

  1. Jeder, der sich schon einmal mit der kinetischen "Herleitung" des Massenwirkungsgesetzes beschäftigt hat, weiß, dass diese Herleitung wissenschaftlich ausgesprochen fragwürdig ist, weil sie über die Reaktionsordnung Einschränkungen macht, die durch die Phänomene so nicht berechtigt sind.

  2. Im Fall des chemischen Gleichgewichts ist es thermodynamisch nicht von Interesse, wie schnell es erreicht wird, sondern welche stoffliche Zusammensetzung vorliegt und aus welchem Grund die Reaktion bei dieser Zusammensetzung endet.

  3. Seit über 60 Jahren kennen wir das Phänomen der negativen absoluten Temperaturen, auf die man bei der Entwicklung von Maser und Laser gestoßen war. Bei dieser Technik versagt die kinetische Theorie, aber davon unberührt haben inzwischen CD und Laserpointer unseren Alltag erobert.


Daraus können wir ruhigen Gewissens folgenden Schluss ziehen:

Kinetische Überlegungen sind für das Verständnis thermodynamischer Phänomene nicht hilfreich.

Die isotherme Einschränkung der klassischen Thermodynamik kann man dennoch für die damalige Zeit in gewissem Sinne als weise ansehen:

Man kam dadurch nicht in die Erklärungsnot, sagen zu müssen, was sich ändert, wenn sich die Temperatur ändert.

Denn das hätte man damals - aus heutiger Sicht - nicht gekonnt. Heute haben wir die Möglichkeit, die Temperatur als ein Quantenphänomen zu beschreiben. Aber Quanten haben dem damaligen Denken völlig widersprochen.
Die Quantentheorie hat die naturwissenschaftliche Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts tief erschüttert, aber sie ist heute so weit entwickelt, dass wir für die Temperatur inzwischen auch eine schlüssige nicht-kinetische, sondern thermodynamische Deutung als Quantenphänomen haben. Darauf gehen wir im Kapitel 2.3. ausführlich ein. Deshalb sind wir auch nicht mehr auf die isotherme Einschränkung angewiesen und können thermodynamische Phänomene angemessen isoenergetisch deuten.

Fenster schließen