5. Die molare Entropie -
eine thermische Stoffeigenschaft

Als Stoffeigenschaften bezeichnet man Phänomene, die für einen bestimmten Stoffe charakteristisch sind. Unter 'charakteristisch' für einen Stoff versteht man solche Phänomene, für die man bei Messungen an großen Stoffportionen gleiche Messwerte erhält wie bei kleinen Portionen. Dadurch wird es z. B. möglich einen Stoff auch an sehr kleinen Mengen zu identifizieren.

Die Masse eines Objekts ist nicht kennzeichnend für den Stoff, das Material, aus dem das Objekt besteht. Bezieht man die Masse jedoch auf das Volumen des Objekts, so erhalten wir die Stoffeigenschaft „Dichte".

Ähnlich verhält es sich mit der Entropie. Bei einer größeren Stoffportion ergibt sich auch ein größerer Entropie-Messwert. Bezieht man die Entropie-Messwerte auf die Masse, das Volumen oder die Teilchenanzahl (also auf die Größe) der Stoffportion, so ergibt sich mit dem entsprechenden Quotienten eine Stoffeigenschaft. Am gebräuchlichsten ist es die Entropie auf die Stoffmenge zu beziehen und diesen Quotienten als molare Entropie zu bezeichnen.

Ähnlich wie die Messwerte der Dichte sind die Messwerte der Entropie von der Temperatur abhängig. Während man bei der Dichte die Werte für große Temperaturbereiche tabelliert, beschränkt man sich bei der molaren Entropie zumeist nur auf eine Standardtemperatur und bezeichnet die Werte als molare Standardentropie. Dichte und molare Entropie sind zwei wichtige Beispiele für thermische Stoffeigenschaften.

Anders als bei vielen Stoffeigenschaften gibt es bei der molaren Entropie keine durchgängig akzeptierte anschauliche Vorstellung über diese Eigenschaft. In diesem 5. Kapitel soll die molare Entropie als Stoffeigenschaft gedeutet und ihre thermische Qualität entwickelt werden.



5.1. Entropie ist absolut

Mit dem Regalmodell ist es uns möglich, zu verstehen, dass die Entropie ein Mass für die Anzahl der besetzten Energieniveaus in einem System, in einem Stoff ist. Molare Entropien gehören zu den thermodynamischen Größen, die wir als absolute Größenwerte angeben und nicht als relative Werte in Bezug zu einem willkürlich gewählten Nullniveau. Die einzige Freiheit, die bleibt, ist das Festlegen der Einheit der Entropie, weil jedes Phänomen invariant gegenüber der beim Messen verwendeten Einheit ist.
Die molare Entropie ist eine Stoffeigenschaft*, die ähnlich wie die Dichte eines Stoffes von der Temperatur abhängt. Die Art und Weise, in der ein Stoff zugeführte thermische oder andere Energie abspeichert, oder die Änderung, die in seinem Speichersystem vor sich geht, wenn er thermische oder andere Arbeit verrichtet, ist charakteristisch für ihn und seinen inneren Aufbau und spiegelt sich in seinem Wert der molaren Entropie, für den - wie bei der Dichte - stets auch eine Temperatur angegeben werden muss.
Vergleicht man Entropiewerte verschiedener Stoffe bei gleicher Temperatur, so bedeutet ein großer Wert, dass dieser Stoff bis zur angegeben Temperatur mehr thermische Energie gespeichert hat als ein Stoff mit einem kleineren Wert. Aus diesen Angaben kann man - mit wenigen Ausnahmen (s. Kap. 3.2, 2. Verfeinerung) - entnehmen, ob ein Stoff ein großes oder ein kleines Speichersystem darstellt. Als allgemeinere Beschreibung der Entropie kann man sagen:

Die Entropie und ihre Änderungen bestimmen
die Größe des stofflichen Energie-Speichersystems

Der absolute Charakter der Entropie ist sehr prägend und sollte uns dazu anhalten, beim Herangehen an dieses Phänomen, alles Willkürliche zu unterlassen. Molaren Entropien beziehen sich auf Stoffportionen in Vielfachen der benutzten Formeleinheit. In der Wahl der Formeleinheit steckt jedoch etwas Willkülrliches, das man besser vermeiden sollte. In der Wahl der Formeleinheit geht der Chemiker nicht systematisch vor. So wird bei Gasen wie Chlor, Wasserstoff, Sauerstoff etc. stets angegeben, dass die kleinsten Teilchen dieser Stoffe aus zwei Atomen bestehen. Beim Schwefel und Phosphor verzichtet man inkonsequenterweise auf die Angabe der Molekülgröße S8 bzw. P4. Man weiß, dass Wasser aus Clustern aufgebaut ist, aber man gibt es in der Formeleinheit nicht an. Auch bei den Salzen wie Kochsalz gibt man nicht die kleinste Einheit, die Elementarzelle an, die dem Kristall zugrunde liegt. Diese enthält beim Kochsalz nämlich 4 Formeleinheiten NaCl und - um ein anderes Beispiel zu nennen - beim Diamant 8 Kohlenstoffatome. Diese Inkonsequenz oder Willkür in der Formelbildung erschwert das Verständnis der Entropiewerte, vor allem dann, wenn man die Entropien verschiedener Stoffe im Vergleich verstehen will. In einem Mol Schwefel S8 befinden sich doppelt soviele Atome wir in einem Mol Phosphor P4. Verständlicherweise können mehr Atome mehr Niveaus besetzen oder mehr Energie speichern. Deshalb wurden für die folgenden Darlegungen die molaren Entropien umgerechnet und auf die Anzahl der Atome bezogen. Für diese Werte wird hier die Bezeichnung atomare Entropie und das Symbol Sat verwendet. Atomare Entropien sind beim Vergleich von Stoffen mit unterschiedlicher Stöchiometrie aussagekräftiger als die molaren Entropien.

* In dem Artikel "Entropy And The Shelf Model", der im November 2006 im Journal of Chemical Education erschien, (J.Chem.Educ.2006,83,1686-1964) finden Sie eine ausführliche Darlegung der Möglichkeiten des hier vorgestellten Modells.