7. Experimente II :
Stoffumwandlungen

Im zweiten experimentellen Kapitel wollen wir uns nun solchen Phänomenen zuwenden, bei denen sich das Energiespeichersystem selbst ändert. Die Speichersysteme für die thermische Energie der Translation, der Rotation und der Vibration unterscheiden sich in ihrem Aufbau und die Kenntnis dieser Unterschiede ist hilfreich zum Verständnis der unterschiedlichen Stoffeigenschaften im festen, flüssigen und gasförmigen Zustand.

Die Speichersysteme können sich dadurch ändern, dass die Niveauabstände nicht konstant bleiben. Solche Änderungen haben wir bereits im Kapitel 6 kennengelernt. Es kann bei chemischen Reaktionen hinzukommen, dass die jeweils untersten Niveaus der verschiedenen Speicher nicht auf gleicher Energiehöhe liegen. Es kann weiterhin vorkommen, dass im Verlauf einer Reaktion Speichersorten der Translation, Rotation und Vibration hinzukommen oder verschwinden. Um die Verhältnisse überschaubar zu halten, beginnen wir mit Reaktionen, in deren Verlauf sich die Aggregatzustände nicht ändern.


7.1. Spontane Temperaturänderungen

Die klassische Thermodynamik des 19. Jahrhunderts war und ist eine isotherme Theorie in ihren dominanten Teilen. Obwohl praktisch keine chemische Reaktion tatsächlich isotherm und unter Standardbedingungen auftritt, ist es natürlich bekannt, dass sowohl Edukte als auch Produkte unter Standardbedingungen existieren können. Einer Reaktion folgt automatisch eine Temperaturkompensation mit der Umgebung, wenn eine Isolierung entfernt wird.

7.1.1. Endotherme Vorgänge

Nach dieser gedanklichen Vorarbeit wollen wir uns im Realexperiment einem endothermen chemischen Vorgang zu wenden.

Video: endotherme Reaktion im isolierten System

Nach dem Entfernen der Trennwand und dem Schütteln reagiert ein weißer Feststoff mit einer farblosen Flüssigkeit. Die Temperatur sinkt in etwa 10s um 17K.
Wir wissen allerdings noch nicht, welche Stoffe hier tatsächlich eingesetzt wurden. Ebenfalls ist noch offen, welche Änderungen am Speichersystem für den Temperaturabfall verantwortlich sind. Beides soll geklärt werden, nachdem wir auch eine exotherme Reaktion gesehen haben.

7.1.2. Exotherme Vorgänge

Video mit Ton: exotherme Reaktion im isolierten System

Nach dem Entfernen der Trennwand reagieren zwei farblose Flüssigkeiten exotherm miteinander. Das Gemisch ist weiterhin farblos und die Temperatur steigt in etwa 10s um 16K.

Deutung für beide Versuche:

Im ersten Experiment reagierte festes Ammoniumchlorid endotherm mit destilliertem Wasser und bildete hydratisierte Ionen. Ein neutraler Stoff spaltet sich endotherm in entgegengesetzt geladene Ionen.

endotherme Reaktionsgleichung

Die beiden wasserklaren Flüssigkeiten, die im zweiten Experiment exotherm reagiert haben, waren Natronlauge und Salzsäure. Die Reaktionsgleichung dafür schreiben wir ohne die Natrium- und die Chlorid-Ionen auf, weil diese im Verlauf der Reaktion nicht verändert wurden. Hier bilden entgegengesetzt geladene Ionen exotherm neutrale Moleküle.

exotherme Reaktionsgleichung

Die Ion-Dipol-Bindungen zwischen den Hydrat-Wasserdipolen und den Wasserstoff- bzw. den Hydroxid-Ionen werden gespalten und die beiden Zentralteilchen bilden eine polare Atombindung aus. Die Wassermoleküle der Hydrathüllen sind in der Reaktionsgleichung auf der Produktseite getrennt von dem neu gebildeten Wassermolekül geschrieben. Man muss sich aber klar machen, dass alle Wasserteilchen sich unterschiedslos in die Wassercluster einfügen. Das Wasser hydratisiert sich selbst. Der exotherme Kern dieser Reaktion besteht in der Bildung einer polaren Atombindung aus zwei weit voneinander entfernten Ionen mit entgegengesetzter Ladung. Zwar müssen vorher die Bindungen der Hydrathüllen endotherm zerstört werden, aber bei der exothermen Clusterbildung werden sie teilweise wieder zurückgebildet. Es liegt deshalb nahe, die Temperaturänderung hauptsächlich der Entstehung der neuen Atombindung zuzuschreiben.

Die beiden Reaktionen verhalten sich wie Hin- und Rückreaktion:

1. endotherm: Ein neutraler Stoff wird durch Wasser in hydratisierte, entgegengesetzt geladene Ionen zersetzt.

2. exotherm: Entgegengesetzt geladene Ionen neutralisieren sich gegenseitig exotherm zu einem neutralen molekularen Stoff.

7.1.3. Quantenchemische Deutung

Wenden wir uns nun den quantenchemischen Fragen zu und untersuchen, welche Änderungen im Speichersystem sich bei einer chemischen Reaktion exotherm, also Temperatur steigernd, bzw. endotherm, also Temperatur senkend auswirken. Bei dieser Untersuchung können wir uns auf die Abschätzung gemäß der Kraftregel beschränken, weil für den Ablauf einer Reaktion der Erhaltungssatz der Masse gilt.
Aus den bisher angestellten Überlegungen zur thermischen Trägheit wissen wir bereits, dass ein Speichersystem mit kleinen Niveauabständen bis zu einer bestimmten Temperatur mehr thermische Energie speichern kann, als dies ein System mit großen Niveauabständen es bis zur selben Temperatur zu speichern vermag. Werden die Teilchen im Verlauf einer Reaktion mitsamt ihrer konstanten thermischen Energie in Speicherregale mit dichter liegenden Energienievaus umgelagert, so sinkt dabei die Temperatur im System. Eine hohe Niveaudichte bedeutet eine große Speicherkapazität. Gleichzeitig sagen uns dichter liegende Niveaus aber auch, dass die Teilchen schwächeren Rückstellkräften ausgesetzt sind.

Endothermer Reaktionsweg zum Gleichgewicht

endotherme Reaktion FM

Als Deutung für den ersten der beiden Versuche können wir sagen, dass die Wassermoleküle die Ionenbindungen im festen Ammoniumchlorid aufbrechen und die entgegengesetzt geladenen Ionen auf großen Abstand bringen. Der große Abstand der hydratiserten Ionen einerseits und die große Dielektrizitätszahl des Wassers reduzieren die Rückstellkräfte, erhöhen damit die Speicherfähigkeit (Querschnittsfläche im Fluidmodell) und senken bei konstanter Energie die Temperatur (Füllhöhe). Aus dem obigen Bild ist ersichtlich, dass auch hier die Temperaturänderung etwa eine halbe Modelleinheit - endotherm - beträgt.

Exothermer Reaktionsweg zum Gleichgewicht

exotherme Reaktion FM

Für den zweiten Versuch können wir feststellen, dass bei der exothermen Neutralisation wegen der Ausbildung der festen Atombindung einerseits und des Einbaus des neuen Wassermoleküls über starke H-Brücken in die Clusterstruktur die Niveaudichte auf der Produktseite geringer wurde. Bei konstanter Energie muss dabei die Temperatur ansteigen. Im Fluidmodell steigt die Füllhöhe (Temperatur), weil die Speicherfähigkeit (Querschnittsfläche) geringer wird. Das obige Bild zeigt diese Modelldarstellung. Da im Fluidmodell die Füllhöhe die absolute Temperatur darstellt, müssen die Änderungen, die wir in üblichen Experimenten beobachten, immer relativ auf die gesamt Skala bezogen werden. Deshalb erscheinen die Temperaturänderungen im Modellbild realistischerweise recht klein, aber wahrnehmbar. Hier liest man an der seitlichen Skala etwa eine halbe Modelltemperatureinheit 0,5 tu ab, die aber in einem Realexperiment wohl ca. 50K entsprechen würde. Dies wurde im oben genannten Fall natürlich nicht erreicht. Die folgende Skizze soll vor allem verdeutlichen, dass im Gleichgewicht tatsächlich die Entropie, also die Querschnittsfläche im Fluidmodell, maximal wird.

Die Thermulations Software - anders als die Realität - erlaubt uns alle Teilchen auch über die Gleichgewichtslage hinaus auf die Produktseite zu schieben. Dadurch wird im Fluidmodell sichtbar, dass die Entropie wieder abnimmt und folglich im Gleichgewicht das Entropiemaximum vorlag.
An der Änderung der Farbintensität erkennt man, dass auf dem Reaktionsweg die thermische Energie konstant geblieben ist. Im reinen Edukt ist die Farbintensität am größten und der vom Medium gefüllte Raum am kleinsten. Im Gleichgewicht nimmt dann das fluide Medium den größten Raum ein und zeigt deshalb die geringste Farbinensität. (Der entsprechende Bezug zu realen Messwerten wurde in 3.2 dieser Webseite am Beispiel des Elements Silber beschrieben.)

Die Deutungen in diesem Abschnitt sind bewusst einfach gehalten, indem die Vorgänge nur mit dem Fluidmodell gedeutet wurden. In diesem Modell werden die Energiehöhen der untersten Niveaus von Edukt und Produkt nicht sichtbar, obwohl sie berücksichtigt wurden. In beiden Fällen gelang aber auch so eine zufriedenstellende Visualisierung des experimentellen Befunds. Diese zweite "Stellschraube" wird im Abschnitt 7.2. über das chemische Gleichgewicht näher untersucht.

7.1.4. Isotherm oder isoenergetisch?

In Schulbüchern findet man häufig solche Aussagen:

"Exotherme Reaktionen verlaufen unter Energieabgabe."

Im Labor kann man jedoch feststellen, dass sich ein Reaktionsgefäß erwärmt oder ein Reaktionsgemisch sogar aufglüht.
Solche Aussagen fördern nicht das Verständnis für diese Vorgänge. Sie sind ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Die Experimente legen eine andere Aussage nahe: Bei chemischen Reaktionen kann sich die Temperatur erhöhen oder erniedrigen, weil die Reaktion die Größe des thermischen Speicherraums vergrößert oder verkleinert. Je nach Qualität der thermischen Isolierung des Reaktionsraums kommt es schneller oder langsamer zum Temperaturausgleich mit der Umgebung.
Eine Verkleinerung des Speichersystems führt bei konstanter Energie zu einer Temperaturerhöhung und umgekehrt.

Der Film macht eindrücklich klar, dass durch die chemische Reaktion die Temperatur steigt, während gleichzeitig die Energie im System konstant bleibt. Wir müssen also verstehen lernen, dass die Gesamtenergie im System bzw. die mittlere Teilchenenergie nicht auch die Systemtemperatur festlegen.
Damit die Reaktion einsetzen kann, muss zunächst die kinetische Hemmung entfernt werden, d. h. man muss die Trennwand herausziehen. Danach hat man als Experimentator keinen Einfluss mehr auf den folgenden Ablauf.
Natürlich verfügt das System über keine ideale Isolierung, aber dennoch findet eine Übertragung von thermischer Energie auf die Umgebung praktisch nicht statt. Die Aussage, dass bei exothermen Reaktionen Energie an die Umgebung abgegeben wird, steht im Widerspruch zu den Phänomenen, ist irreführend und sollte vermieden werden.
Dass sich dennoch diese Aussage in vielen Lehrbüchern findet, hat historische Gründe, die im Folgenden dargelegt werden sollen.

Die klassische Thermodynamik des 19. Jahrhunderts war und ist in ihren dominanten Teilen eine isotherme Theorie. Wenn auch so gut wie keine chemische Reaktion tatsächlich isotherm abläuft, hat man allerdings gewußt, dass man die Produkte natürlich unter den gleichen Bedingungen wie die Edukte erhalten kann, wenn man nach dem Abklingen der Reaktion so lange wartet, bis der Temperaturausgleich mit der Umgebung stattgefunden hat.
Stellt man die Energiebilanzen unter der Nebenbedingung gleicher Temperatur (z. B. Standardtemperatur) der Edukte und Produkte auf, so bekommt man die Werte, die auch in heutigen Tabellenwerken immer noch publiziert werden. Man sollte sich klar machen, dass man sich durch dieses Bilanzierungsverfahren bei der Definition der chemischen Reaktion deutlich von den Phänomenen entfernt hat. Die darauf aufbauende Definiton der chemischen Reaktion enthält nämlich zwei wesensverschiedene Teile:

1. den Reaktionsteil mit dem Umbau des quantenchemischen Speichersystems. In diesem Teil ändert sich die Temperatur spontan und zwangsläufig, während die Energie im Reaktionssystem so konstant bleibt, wie es die Isolierung des Systems zulässt.

2. den Nicht-Reaktionsteil, der den Temperaturausgleich mit der Umgebung beinhaltet und bei dem das quantenchemische System konstant bleibt. In diesem Teil hängt die Temperaturänderung von der Isolierung/Kühlung des Systems ab und es kommt zu einem Übertrag von thermischer Energie zwischen System und Umgebung.

Die Änderungen in den beiden Teilen sind quantenchemisch wesensverschieden. Im Rahmen der hier vorgestellten Quantenthermodynamik liegt es nahe, die Phänomene unter der Bedingung konstanter Energie zu betrachten und sich bei der Definition der chemischen Reaktion auf den eigentlichen Reaktionsteil zu beschränken.

7.1.5. Kinetische Hemmung

Ob ein Vorgang spontan abläuft, hängt nicht von der Exo- oder Endothermie dieses Vorgangs ab. Nach dem kräftig endothermen Vorgang bei der Spaltung einer Ionenbindung im vorigen Abschnitt beschäftigen wir uns hier jetzt mit einem ebenso stark exothermen und spontanen Vorgang.
Eine übersättigte Lösung von Natriumacetat wird mit einem Impfkristall zur Kristallisation gebracht. Zum Vergleich wird eine etwa gleich große Portion von Impfkristallen in eine verdünnte wässrige Lösung gegeben.

Video: Spontane Kristallisation

Die kinetische Hemmung ermöglicht die Übersättigung der Lösung. Sie liegt darin, dass die Bildung einer neuen Oberfläche des festen Natrium-Acetats gehemmt ist. Ein Impfkristall bringt diese neue Oberfläche jedoch schon mit, so dass bei der Kristallisation "nur" die Oberfläche der Kristalle vergrößert werden muss.
Im Abschnitt 7.4. über den thermodynamischen Antrieb kommen wir noch einmal auf die kinetische Hemmung zurück.