7.4. Thermodynamischer Antrieb bei chemischen Reaktionen

In diesem Abschnitt geht es darum, aufzuzeigen, dass der Antrieb für eine chemische Reaktion sich auf das gleiche Grundphänomen zurückführen lässt wie der Antrieb, der zum Temperaturausgleich zwischen einem heißen und einem kalten Stoffe führt, so wie er hier in Abschnitt 6.3 vorgestellt wurde. Die vier Grundfragen zum Antrieb bleiben auch in diesem Abschnitt aktuell und wir werden am Ende dieses Kapitels feststellen, ob unsere Antworten hier bei den chemischen Reaktionen anders ausfallen als beim Temperaturausgleich.

Anhand eines Modellversuchs mit dem Regalmodell wollen wir den Antrieb einer endothermen Hinreaktion bis zum chemischen Gleichgewicht analysieren.

Video mit Ton: Modellversuch zur Einstellung eines Gleichgewichts, Hinreaktion

Die beiden folgenden Bilder zeigen noch einmal den Ausgangszustand der Edukte und den Endzustand des eingestellten Gleichgewichts. Da die Linien der Halbwertsenergien skizziert sind, erkennt man gut, dass sich das Gleichgewicht auf endothermen Weg eingestellt hat.
Auf der Produktseite ist das Endstoffregal etwas dunkler gezeichnet. Es steht wie im Video hinter der Eduktregal.

Antrieb - Edukte
Antrieb - GG

Auf der Eduktseite sind 6 Niveaus besetzt und im Gleichgewicht verteilen sich die Teilchen auf 9 Niveaus. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Entropie zugenommen hat. Die Art und Weise wie in den einzelnen Schritten das Endstoffregal aufgefüllt und aus dem Eduktregal entnommen wird, entspricht genau der Grundregel. Jede neu entstehende Verteilung ist "boltzmannartig". Mit dem Programm Thermulation-I kann man zeigen, dass in jedem Teilschritt die Halbwertsenergie bei Edukten und Produkten gleich ist.

Dass sich das Gleichgewicht so einstellt, dass in diesem Zustand die Entropie maximal wird, kann man sich auch leicht dadurch klar machen, dass man alle Teilchen auf die Endstoffseite "durchreagieren" lässt und dabei die Energie konstant hält. Dann sind nur zwei Niveaus besetzt und die Temperatur ist noch kälter geworden. Dies zeigt das nächste Bild.

Antrieb - Edukte

Da jetzt das unterste Niveau deutlich über dem Nullniveau des Gesamtsystems liegt, werden die Teilchen auf die zwei untersten Niveaus der Produktseite zusammen gedrängt, weil die Gesamtenergie zu klein ist, um noch höhere Niveaus zu besetzen. Dieser Zustand würde sich aus der Eduktseite nicht spontan und freiwillig einstellen. Es sind nur zwei Niveaus besetzt, mithin ist die Entropie sehr gering und unsere Erfahrung lehrt uns, dass die natürlichen Prozesse nicht über das Entropiemaximum hinaus freiwillg erfolgen.
Die Halbwertsenergie, also die Temperatur ist noch weiter abgesunken, weil der Prozess auch über das Gleichgewicht hinaus weiterhin endotherm ist. Ursache für die Endothermie des Gesamtvorgangs ist jedoch nicht die Änderung der Niveaudichte von der Edukt- zur Produktseite, sondern der Niveauunterschied der beiden untersten Niveaus.

Wenn man aber einmal den Endstoff auf anderem Weg gewonnen hat, so kann man ihn auf diese Temperatur abkühlen. Dann kann man feststellen, dass dieser Stoff spontan und freiwillig die exotherme Rückreaktion antritt, natürlich nur falls keine kinetische Hemmung vorliegt.
Diesen Fall kann man nun anhand des nächsten Bildes diskutieren:
Man sieht, dass jetzt sogar die Teilchen aus dem untersten Niveau der Produktseite Photonen emittieren können, wenn sie nämlich in die unteren Niveaus der Eduktseite "fallen". Die Anzahl der besetzten Niveaus, also auch die Entropie, steigt dabei und dies wird solange geschehen, bis die Entropie wieder maximal wird.

Antrieb - Edukte

Wenn Teilchen bei der Reaktion nach unten fallen, so müssen wegen der Energieerhaltung auch einige in höhere Niveaus angehoben werden. Dies leisten die Photonen, die beim Übergang in die unteren Niveaus emittiert werden, aber wegen der Isolation das System nicht verlassen, stattdessen aber die eigenen Systemteilchen auf höhere Niveaus bringen. Die Teilchen werden auf mehr als zwei Niveaus verteilt und die Halbwertsenergie, also die Temperatur steigt. Die Rückreaktion ist exotherm.

Zum Schluss des Abschnitts über den Antrieb bei chemischen Reaktionen wollen wir wieder kontrollieren, wie wir die vier Fragen zum Antrieb, die wir in 6.3 gestellt haben, jetzt beantworten können.

  1. spontaner Start?

  2. Die Edukte liegen in einem Makrozustand mit einer bestimmten dominanten Verteilung vor. Durch die Aufhebung der kinetischen Hemmung wird jedoch eine andere Verteilung der thermischen Gesamtenergie im Gesamtsystem dominant, weil weitere, bisher unbesetzte Niveaus jetzt plötzlich erreichbar werden. Liegen diese Niveaus bei einer niedrigeren Energiehöhe, so wechseln Teilchen unter Emission von Photonen in diese Niveaus. Ist das System isoliert, so bleiben die Photonen im System und es können andere Teilchen unter Absorption dieser Photonen auch in höhere unterbesetzte Niveaus wechseln.

    dominante Verteilung
  3. Abnahme der Prozessgeschwindigkeit?

    Nach dem Start gelangen im Verlauf des Prozesses immer mehr Eduktteilchen auf die Produktseite. Beide Hüllkurven haben zwar die gleiche Halbwertsenergie, aber die Hüllkruven liegen noch nicht auf gleicher Höhe. Das Bild oben zeigt einen solchen Zwischenzustand mit eingezeichneten Halbwertsenergien. Die Emissionsleistung der Edukte nimmt stetig ab, eventuell (bei Endothermie) durch die sinkende Temperatur verstärkt. Dadurch verlangsamt sich der Vorgang und es kommt schließlich zum Versiegen des Antriebs, wenn die dominante Verteilung der Gesamtenergie im Gesamtsystem und damit das Entropiemaximum erreicht ist.

  4. "Stillstand auf halber Strecke"?

    Ein System kann sich nicht aus eigener Kraft aus der dominanten Verteilung entfernen. Bei welcher "Strecke", d. h. bei welcher Temperatur der "Stillstand", also das chemische Gleichgewicht, eintritt, wird von der Bauart der Stoffe und von den Anfangsbedingungen bestimmt.

  5. Antrieb für den Umkehrvorgang?

    Umkehrvorgang würde hier bedeuten, dass die Produkte wieder Edukte bilden. Dieses Phänomen ist durchaus bekannt und tritt in zwei Fällen auf:
    1. wenn man vom reinen Endprodukt ausgeht und die kinetische Hemmung entfernt,
    2. wenn ein eingestelltes chemisches Gleichgewicht eine Störung erfährt.
    Je nach Art der Störung reagiert das Gleichgewicht mit dem spontanen Einsetzen der Hin- oder der Rückreaktion. Im Begleitheft zum Thermulation-I Programm ist dieser Fall ausführlich behandelt (s. auch Abschnitt 8.2/8).

Wir können nun die Anworten auf die vier Fragen zum thermodynamischen Antrieb bei Temperaturausgleich und chemischer Reaktion zusammenfassen:
Spontane Emission und Absorption sind in beiden Fällen sehr hilfreiche Deutungsmuster. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass bei der chemischen Reaktion die Übergänge zwischen verschiedenen Speichersystemen erfolgen, während beim Temperaturausgleich die Übergänge nur innerhalb der einzelnen Speicherregale möglich sind.
In beiden Fällen stellt sich eine dominante Verteilung der Gesamtenergie im Gesamtspeichersystem ein. In beiden Fällen kommt es zum Entropiemaximum. Der Unterschied besteht darin, dass beim thermischen Gleichgewicht die Gesamtentropie sich additiv aus den verschiedenen Einzelentropien zusammensetzt, während bei der chemischen Reaktion die Gesamtentropie im Gleichgewicht größer ist als die Summe der Edukt- und Produktentropien. Bei der bekannten Additivitätseigenschaft der Entropie wird häufig übersehen, dass sie nur für Systeme gilt, die insofern unabhängig voneinander sind, dass sie nur durch den Austtausch von Photonen miteinander wechselwirken können. Im Gegensatz dazu können beim chemischen Gleichgewicht Produktteilchen auch die Energieniveaus der Eduktseite erreichen und umgekehrt. (s. Abschnitt 8.2/2)